Der Tod der Bildung Von Marian Heitger (Spectrum) 05.01.2002

 

Als Ware hat Bildung nichts mehr mit Selbstbestimmung zu tun, nichts mit Urteilskraft, schon gar nichts mehr mit der Fähigkeit, verantwortlich zu werten und zu handeln. Sie wird zum Gegenteil dessen, was ihre Dignität ausmacht. Unsere Universitätsreform:

 

Kürzlich fand in Wien eine Veranstaltung statt mit dem Thema: "Die Zukunft der österreichischen Universitäten". Bei der Hauptdiskussion, die die Ergebnisse zusammenfassen sollte, kam vom obersten Beamten für die Universitäten die programmatisch gemeinte Aussage, Bildung sei ein Handelsgut. Vermutlich gab er damit auch die Meinung seiner Ressortchefin wieder, und der Bildungssprecher der Industriellenvereinigung bestätigte auf nachhaltiges Fragen diese Auffassung.

So bedenklich ein solcher Satz für eine bildungspolitische Entwicklung auch sein mag, so läßt er doch an Bestimmtheit nichts zu wünschen übrig und macht schließlich auch deutlich, was die Absicht der heftig umstrittenen Reformvorschläge definiert: Bildung als ein Handelsgut. Damit wird Bildung zur Ware, die man kaufen und verkaufen kann. Der ökonomische Gewinn wird zum Maßstab für das Gelingen der Reformen.

Die Universitäten sollen zu Produktionsstätten der Ware Bildung werden. Die Studiengebühr ist dann der Preis, den man für die Ware Bildung zu bezahlen hat. Die Universität wird zum Kaufhaus, wo Lehrende ihre Ware anbieten respektive wo Forschende ihre Forschungsergebnisse verkaufen. Evaluation der Universitäten wird zur Leistungskontrolle, einmal in bezug auf die Qualität der Ware, zum anderen in bezug auf die Verkaufszahlen, sprich Absolventen, die mit der entsprechenden Handelsware versorgt werden konnten, das heißt, das Studium absolviert haben.

Je produktiver die Arbeit der Universitäten ist, desto größer der Beitrag des Ministeriums, je brauchbarer die Ware, desto leichter lassen sich sogenannte Drittmittel lukrieren: von Produktionsstätten und Wirtschaftsunternehmen. An der Spitze der Universitäten sind nicht mehr namhafte Wissenschaftler, sondern gute Manager gefragt. Wissenschaft und Lehre werden zu Dienstleistungsbetrieben, Forschung dient nicht mehr der Wahrheitsfindung, sondern dem Auffinden von verwertbaren Ressourcen; das Studium, das heißt die Lehre, dient der Produktion von Leistungsträgern für besonders anspruchsvolle Positionen.

Vor diesem Hintergrund mit seiner programmatischen Festlegung wird verständlich, daß die Universitätsreform darauf reduziert und gleichzeitig darauf konzentriert ist, wie man den Betrieb auf Hochleistung seiner Nützlichkeit trimmt, welche Gremien eingerichtet werden und wie sie im Sinne der Erfüllung dieses Auftrages zu besetzen sind.

Die neue Vorstellung von der Universität als einem Dienstleistungsbetrieb für die Bedürfnisse der Gesellschaft ist eine radikale Absage an die Idee der Universität, wie sie Humboldt vor 200 Jahren in der Weiterentwicklung ihrer ursprünglichen Idee konzipiert hatte. Die Geschichte kann als Zeuge dafür angerufen werden, daß jene Konzeption in Philosophie, Kunst und Wissenschaft Hervorragendes geleistet hat. Es mag aber sein, daß sie nicht mehr in der Lage ist, den Herausforderungen der Gegenwart gewachsen zu sein: dem Ansturm der vielen auf die Universitäten, dem gestiegenen Bedarf der Gesellschaft an hochqualifizierten Menschen für die technisch-industriell-wirtschaftliche Entwicklung, für fortschreitenden Spezialisierung in den Wissenschaften, für den ständigen Zuwachs an Wissen.

Gerade aber wenn man diese Herausforderungen annimmt, ist die Konzeption der Bildung als Handelsware, der enge Zuschnitt auf technisch-wirtschaftliche Brauchbarkeit nicht die in die Zukunft weisende und dem Menschen angemessene Lösung. Natürlich kommt es nicht darauf an, Humboldt zu konservieren, aber den Begriff der Bildung überhaupt zur Ware zu machen, das ist schon eine kaum zu überbietende Mißachtung jener Wertvorstellungen, die uns mit dem Humanismus, den "europäischen" Werten und der Tradition als unverzichtbares Erbe aufgetragen sind.

Der Zugang aller zur Bildung als Forderung demokratischer Gerechtigkeit kann doch nicht dadurch erfüllt werden, daß man sie abschafft, indem sie zur Handelsware erklärt wird. Als Ware hat Bildung nichts mehr mit Selbstbestimmung zu tun, nichts mit Urteilskraft, schon gar nichts mehr mit der Fähigkeit, verantwortlich zu werten und zu handeln. Sie wird zum Gegenteil dessen, was ihre Dignität ausmacht. Sie instrumentalisiert den Menschen, statt ihn in seiner Selbständigkeit zu fördern, ihm zu helfen, eine unabhängige Persönlichkeit zu werden. Bildung als Ware beseitigt den Anspruch von Verantwortung, einer Verantwortung, die durch den Zuwachs an Wissen nicht geringer geworden ist.

Die Frage, ob wir alles dürfen, was wir können, wird in Zukunft noch sehr viel bedrängender sein. Wer, so ist zu fragen, soll sie beantworten? Wenn nicht der gebildete Wissenschaftler selbst, dem mehr an der Erkenntnis um ihrer selbst willen gelegen ist als an der ökonomischen Verwertbarkeit seiner Forschungsergebnisse. Das Interesse an Wahrheit deckt sich nicht immer mit dem Interesse an Nützlichkeit und Brauchbarkeit.

Unter diesem Gesichtspunkt kann oder muß sich die angestrebte oder auch angeordnete Selbstrechtsfähigkeit der Hochschulen zumindest einige Fragen gefallen lassen. Die Entlassung in die eigene Rechtsfähigkeit kann auch als Schritt in die Abhängigkeit von gesellschaftlich-partiellen Interessen gesehen werden. Der Staat, so hatte Humboldt gefordert, solle ein treuhändischer Verwalter des allgemeinen Interesses an Wahrheit sein; nun gerät die Universität in die Abhängigkeit von mächtigen partikulären Interessen.

Wenn man universitäre Bildung als Handelsware sieht, dann wirft das ein bezeichnendes Licht auf das mit dem neuen Gesetz verbundene Verständnis vom Wissen. Wissen ist degradiert auf die Stufe von Information. Geltung ist nicht von Belang. Wichtig ist der Besitz von Information, die sich für den Fall des Gebrauchs speichern läßt. Durch die Trennung von Forschung und Lehre, durch die Reduktion des Lehrens auf die Vermittlung von Information wird eine der wichtigsten Aufgaben eines jeden Studiums mißachtet; nämlich die, das Denken zu lehren.

Denkenlernen ist gleichzeitig ein Prozeß der Befreiung von Vorurteilen, der unkritischen Bindung an Autorität und Zeitgeist. Denkenlernen schließt das Fragenlernen, das Bemühen um methodisch diszipliniertes Argumentieren, ein und stiftet gleichzeitig auch akademische Gemeinschaft in der Suche nach Wahrheit. Es ist bedenklich, wie wenig Bedeutung Staat und Wirtschaft diesem Selberdenken beimessen. Denn Selbständigkeit im Denken ist Bedingung für eine lebendige Demokratie, die die Menschen nicht bevormundet, sondern zur Mündigkeit aufruft. Im übrigen wird man sich nicht wundern dürfen, wenn der Erfindergeist erlahmt, wenn Wirtschaftsleute allenfalls gute Ausführungsorgane sind. Ein paar Lehrgänge zur Pflege von Kreativität und Selbständigkeit machen das Kraut müden Denkens auch nicht mehr fett.

In der Formulierung von Bildung als Handelsware wird das ganze Dilemma unserer Bildungspolitik deutlich. Man betreibt Reformen, die unreflektiert den Gesetzen des Kapitals zu folgen scheinen, ohne sich die Frage nach der Menschlichkeit des Menschen auch nur zu stellen.

Wer sich ein wenig mit der Tradition unseres Bildungsdenkens bekanntgemacht hat, muß wissen, daß schon Sokrates zur Rettung der athenischen Demokratie und des freien Denkens mit allem Scharfsinn gegen jene Sophisten seiner Zeit aufgetreten ist, die jenes Wissen den Söhnen der wohlhabenden Familien zum Kauf anboten, von dem man sich guten Gewinn versprach. Man sollte wissen, daß der Hl. Augustinus jene Lehrer kritisiert, die nur die Wiederholung ihrer Lehren verlangten und das als Lernen ausgaben. Man kann diesen Strang des Bildungsdenkens über Humboldt und Nietzsche bis in unsere Tage verfolgen.

Aber nicht der Mangel an der Verpflichtung gegenüber der Tradition leitet die Kritik, sondern die Sorge um den Menschen in einer freien, lebendigen Gesellschaft. Dabei ist gar nicht zu übersehen, daß unser Bildungssystem die Frage einer hochqualifizierten Ausbildung zu lösen hat. Aber die Reduktion der Bildung auf Ausbildung, der Ausbildung auf berufliche Verwertbarkeit des Wissens und Könnens reicht nicht aus. Die alles entscheidende Frage für die Zukunft der Universität ist die, wie sie beides, nämlich hochqualifizierte und spezialisierte Ausbildung und allgemeine Menschenbildung miteinander verbindet.

Das kann sicher nicht gelingen, wenn man die Ausbildung im Sinne einer Handelsware anbietet, ein paar darüber hinausgehende sogenannte allgemeinbildende zusätzliche Lehrangebote macht. Vielmehr muß das Bildende aus dem jeweiligen Lehrstoff selbst herausgeholt werden. Auch in den sogenannten Ausbildungsfächern muß deren bildende Möglichkeit im akademischen Unterricht herausgearbeitet werden. Schließlich wird auch in der Ausbildung zu zeigen sein, daß das "Reich des Nichtwissens" immer größer ist als das des Wissens und mit jedem neuen Wissen wächst. Die Vernunft selbst erfährt ihre Endlichkeit. Bildung und Wissen machen bescheiden und gefallen sich nicht in der Darstellung des Reichtums von erworbener Bildungsware, die manche in modischer Geschwätzigkeit zur Schau stellen.

Bildung als Ware ist deren Tod, wenn der Fortschritt der Wissenschaft sich im Produzieren von Wissensdaten nach den Gesetzen des Marktes erschöpft. Bildung verkommt zum Haben des Besitzes, statt sich als Bestimmung menschlichen Seins in Selbständigkeit, Urteilsfähigkeit, Verantwortungsfähigkeit zu begreifen. Forschung und Lehre können nur in einer Atmosphäre der Freiheit gedeihen. Auch die Abhängigkeit von gesellschaftlichen Interessen behindert ihr humanes Telos.

Im Streit der Fakultäten schreibt Kant in bezug auf die Philosophie: "Es muß zum gelehrten gemeinen Wesen durchaus auf der Universität noch eine Fakultät geben, die, in Ansehung ihrer Lehren vom Befehle der Regierung unabhängig, keine Befehle zu geben, aber doch alle zu beurteilen die Freiheit habe, die mit dem wissenschaftlichen Interesse, d. i. mit der Wahrheit zu tun hat, wo die Vernunft öffentlich zu sprechen berechtigt sein muß, weil ohne eine solche die Wahrheit (zum Schaden der Regierung selbst) nicht an den Tag kommen würde, die Vernunft aber ihrer Natur nach frei ist, und keine Befehle, etwas für wahr zu halten (kein crede, sondern für ein freies credo ) annimmt."

Was Kant hier für die philosophische Fakultät einfordert, gilt inzwischen für jede Wissenschaft. "Die Wissenschaft und ihre Lehre sind frei", so steht es im Institutsgebäude der Universität. Angesichts der Entwicklung der gegenwärtigen Reform ist die Sorge nicht ganz unberechtigt, daß der Anspruch dieses Satzes nach und nach ausgehöhlt wird, daß Wahrheit unter der Herrschaft des Nutzens den Menschen nicht frei macht, wie die Hl. Schrift bekundet, sondern ihn für Zwecke zu instrumentalisieren sucht, die ihm von außen aufgenötigt werden. [*]

Marian Heitger, Jahrgang 1927, ist Erziehungswissenschaftler und emeritierter Professor der Universität Wien.